



Vom Dorf zur Stadt
Die Geschichte Eschborns von 1945 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts
Wie wird ein Dorf zur Stadt? Diese Frage war der Gegenstand eines Forschungsprojekts zur Stadtgeschichte Eschborns nach 1945, das vom Sommer 2019 bis Ende des Jahres 2022 lief. Es widmete sich der jüngsten Geschichte Eschborns und ihrem hervorstechendsten Merkmal: Dem Wandel von einer kleinen Randgemeinde Frankfurts zu einer Mittelstadt, die als blühender Wirtschaftsstandort bekannt ist.
Eschborns Entwicklung steht nicht für sich allein. Sie lässt sich in einen deutschlandweiten Prozess einordnen, der die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmte: die Suburbanisierung. Suburbanisierung bezeichnet die Randwanderung von Haushalten, Unternehmen und Konsumeinrichtungen aus der Kernstadt heraus an den Stadtrand bis ins Umland. In den 1950er Jahren schuf die massenhafte Verbreitung des Autos die Grundlage für ein Wohnen am Stadtrand über fast alle Bevölkerungsschichten hinweg. Steigende Wohnansprüche und ein idealisiertes Bild vom Leben im Grünen zogen zahlreiche Städter*innen ins Umland. Ab den 1960er Jahren entdeckten auch Unternehmen nach und nach die Vorteile der Vororte: Ausschlaggebend waren die Aussicht auf größere und günstigere Flächen, gute Verkehrsanbindungen ans Schnellstraßennetz und mögliche Einsparungen beim Gewerbesteuerhebesatz. Dabei zog es zunächst die großflächigen Industrieunternehmen in die Vororte, ab den 1970er Jahren folgten ihnen zahlreiche Dienstleistungsunternehmen. Für viele Gemeinden in Ballungsräumen brachte diese Entwicklung einen enormen Wachstumsschub mit sich. Bis in die 1990er Jahre wuchsen sie zu eigenen Zentren heran, die eine neue Rolle in der Region übernahmen. Sie sind auf verschiedene Weise abhängig voneinander und werden durch Pendlerverflechtungen miteinander verknüpft. Innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten veränderte die Suburbanisierung so nicht nur grundlegend Dörfer und Städte in ihrem Innern, sondern prägte auch langfristig die Siedlungslandschaft in Westdeutschland.[1]
In Eschborn lässt sich diese Entwicklung in besonderem Maße nachvollziehen: Kaum eine Stadt veränderte sich so schnell so grundlegend und nur wenige erzielten so hohe wirtschaftliche Erfolge. Wie es dazu kam, zeigt ein Blick in die Vergangenheit.
Die Hürden der Nachkriegszeit
Noch unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Eschborn eine kleine Gemeinde mit rund 1.500 Einwohner*innen und dörflicher Struktur. Der Krieg hatte hier – trotz mehrerer Bombenangriffe in den 1940er Jahren – nur wenige bauliche Schäden hinterlassen: Abgesehen vom Glockenturm der evangelischen Kirche war das Dorf weitgehend intakt. [2] Bereits wenige Monate nach dem Kriegsende wurden Schule und Kindergarten wieder in Betrieb genommen; eine erste demokratische Gemeindevertretung stand fest und die Vereine nahmen nach und nach ihre Aktivitäten auf. Von einem geregelten Alltag war die Gemeinde dennoch weit entfernt: Die allgemeine Knappheit an Ressourcen erschwerte das Leben der Eschborner*innen; es mangelte an Lebensmitteln, Baustoffen und Brennholz. Der wirtschaftliche Aufschwung durch die Währungsreform 1948 brachte zwar eine gewisse Erleichterung, konnte aber nicht alle Probleme lösen – vor allem nicht die Wohnungsnot.[3]
Denn die Nachkriegsjahre brachten eine starke Zuwanderung mit sich: Geflüchtete, Evakuierte aus Frankfurt und Wiesbaden und sogenannte Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft wurden vom Main-Taunus-Kreis auf die Städte aufgeteilt. Bedingt durch seine Lage war Eschborn schon damals einer der Orte mit dem höchsten Zuwachs im Main-Taunus-Kreis.[4] In ihrem Versuch, sich eine neue Existenz aufzubauen, standen die Geflüchteten vor zahlreichen Hürden, darunter vor allem der Mangel an eigenen Finanzmitteln und der fehlende Wohnraum in der Stadt. Die gemeindliche Wohnungskommission teilte ihnen zunächst Zimmer und Betten in den Häusern alteingesessener Eschborner zu. Wie beengt die Verhältnisse waren, zeigen noch heute zahlreiche Bitt- und Beschwerdebriefe an den Bürgermeister.[5] Doch zum Bau neuer Wohnungen fehlte der Gemeinde das Geld: Schon vor dem Krieg verzeichnete die Kommune nur geringe Einnahmen; mit der Demontage der Firma Schiele, dem einzigen großen Unternehmen in Eschborn, brach nun ein großer Teil davon weg.[6]
Die ersten baulichen Veränderungen der Nachkriegszeit gingen daher schleppend voran, immer abhängig von der Verfügbarkeit von Rohstoffen und den finanziellen Förderungen von Land und Kreis. Durchgeführt wurde nur, was höchste Priorität hatte: ein Anbau an der Volksschule in der Jahnstraße; Wohnungen für Geflüchtete in einem Verwaltungsgebäude der Firma Schiele; die Reparatur des einsturzgefährdeten Kirchturms.[7] Der Bau der Siedlung Taunusblick in den frühen 1950er Jahren war das erste größere Projekt – es brauchte einige Überzeugungskraft von Seiten des damaligen Bürgermeisters Heinrich Graf, der die amerikanischen Besatzer um die Überlassung von Bauland am ehemaligen Flugplatz bat.[8]
Zeitgleich wies der Gemeindevorstand erste Gewerbeflächen aus, um Unternehmen anzusiedeln und mit der Gewerbesteuer die Einnahmen zu vergrößern. Es waren vor allem kleinere, ortseigene Betriebe, die auf diesen Flächen aufgebaut wurden. So stabilisierte sich Mitte der 1950er Jahre die Finanzlage langsam und die Eschborner Gemeindevertretung wagte einen Blick in die Zukunft.[9] 1955 verabschiedete sie einen Flächennutzungsplan, der eine Erweiterung der Gemeinde in vier Schritten vorsah: Neue Wohngebiete sollten zahlreichen Neubürger*innen ein Zuhause geben.[10] Doch im Lauf des Jahrzehnts stieg das Interesse am Frankfurter Umland, sowohl bei den Haushalten als auch bei Gewerbetreibenden. Ende der 1950er Jahre lagen dem Gemeindevorstand die ersten Anfragen von großen Wohnungsbaugesellschaften und auswärtigen Unternehmen vor – die Randwanderung nahm an Fahrt auf.[11]
Größer, höher, weiter: Das Wachstum der 1960er Jahre
Einen Wendepunkt brachte das Jahr 1961 – gleich in zweierlei Hinsicht. Zum einen trat das von der Bundesregierung verabschiedete Bundesbaugesetz in Kraft. Es ermöglichte den Kommunen erstmals eine eigenständige Planung innerhalb ihrer Gemeindegrenzen. Sie konnten nun selbständig Bebauungspläne und Flächennutzungspläne aufstellen und so deutlich schneller und unbürokratischer die eigene Entwicklung vorantreiben.[12]
Zum anderen wurde in Eschborn Hans Georg Wehrheim zum Bürgermeister gewählt und löste seinen schwer erkrankten Vorgänger Heinrich Graf ab.[13] Er brachte große Ambitionen und eine Faszination für Städtebau mit. Wehrheim erkannte die Chancen, die sich durch den Wachstumstrend im Rhein-Main-Gebiet abzeichneten. Unter seiner Amtsführung begann eine Planung wie am Reißbrett. Eine Generalkanalisation und ein weitreichendes Straßenbauprogramm bildeten die Basis für eine Modernisierung des Ortes. In nur fünf Jahren wurden über 50 Bebauungspläne aufgestellt, eine städtebauliche Gesamtplanung wurde in Auftrag gegeben und ein gemeindliches Planungsamt einberufen.[14] Gleich viermal wurde bis 1966 der Flächennutzungsplanung erweitert. Anders als ursprünglich vorgesehen wies er nicht mehr nur noch Wohn-, sondern auch Gewerbegebiete aus. Die Idee war, Eschborns Ortsmitte zu einer Wohnstadt auszubauen, umgeben von einem Grünring, der nach außen Büro- und Gewerbegebiete trennte.[15]
Die 1960er Jahre wurden zum Jahrzehnt der großen Veränderungen: Infrastrukturell herrschte ein enormer Aufholbedarf, sowohl an Einrichtungen des öffentlichen Bedarfs als auch in Sachen Straßenbau, Kanalisierung und Wasserversorgung. Der Wohnungsnot der 1950er begegnete die Gemeindevertretung mit einer Baueuphorie, die das städtebauliche Motto der 1960er Jahre zusammenfasste: Größer, höher, weiter. In den Baugebieten Am Stadtpfad und Südwest entstanden die ersten Wohnhochhäuser, große Betonbauten mit viel sozialem Wohnungsbau.[16] Parallel warb die Gemeinde verstärkt Dienstleistungsunternehmen an: Zu den Unternehmen, die das junge Gewerbegebiet Süd formten, gehörten die Textilhandelsfirma Arnold Becker und der Elektro-Großhandel Alfred Elsholtz.[17] Die Gewerbegebiete und die Großwohnsiedlungen veränderten das Stadtbild radikal. Dabei prägten sich die städtebaulichen Trends der 1960er Jahre tief in die Stadtgestalt ein. Die Umlandgemeinden waren in diesem Jahrzehnt eine planerische Spielwiese: Sie boten einen Überschuss an Flächen, die den Kernstädten fehlten. Gleichzeitig gewannen sie dabei eine Finanzkraft, mit der der ländliche Raum nicht mithalten konnte.[18]
So kam es ab der Mitte der 1960er Jahre zu einem explosiven Wachstum, das rasch eine Eigendynamik entwickelte: Jeder neue Betrieb stärkte die Finanzkraft der Gemeinde; jedes neue Wohnbauprojekt brachte neue Wohnungsinteressenten, vor allem aus Frankfurt. Die Gemeinde Eschborn wuchs in alle Richtungen. Konflikte gab es darüber zunächst kaum. Innerhalb der städtischen Politik herrschte weitgehende Einigkeit über die Notwendigkeit der Vergrößerung der Gemeinde und auch die Bürgerschaft sah im Wachstum eher eine Begleiterscheinung der Modernisierung, die notwendig war, um die Notlage der Nachkriegszeit zu überwinden.[19] Auch von außen wurde der Wandel Eschborns positiv wahrgenommen. 1966 gewann die Gemeinde im Bundeswettbewerb „Bürger, deine Gemeinde“ die Goldmedaille für eine vorbildliche Entwicklung.[20] Auch die lokale und regionale Presse porträtierte Eschborn als Musterbeispiel vorstädtischer Entwicklung und städtebaulicher Leistung. Zu den Qualitäten der Gemeinde zählte sie die „urban“ gestaltete Ortsmitte rund um das neue Rathaus, die als modern und lebendig wahrgenommenen Großwohnsiedlungen und die ersten Bürotürme der Gewerbegebiete. „Dynamisch“ wurde zu dem Attribut, das Eschborn am häufigsten beschrieb – es wurde zu einem wichtigen Element des städtischen Images der 1960er und 1970er Jahre.[21] Einen Höhepunkt in diesem Aufstieg Eschborns markierte das Jahr 1970. Im Juni wurde Eschborn offiziell zur Stadt ernannt: Der Ehrentitel galt als „Belohnung“ für die vergangene Entwicklung. Verliehen wurde er im Rahmen des 1.200-jährigen Ortsjubiläums – Eschborn feierte symbolisch sein neues Gesicht.[22]
Ehrgeizige Pläne – Stadtentwicklung in der Debatte
Während Eschborn große Ziele verfolgte, wurden Anfang der 1970er Jahre nach und nach die negativen Seiten der Suburbanisierung offensichtlich. Der Deutsche Städtetag sprach 1971 von einer Krise der Stadt: Die Kernstädte wurden durch die Randwanderung ausgehöhlt, auch finanziell; die Randgemeinden wuchsen weit über ihre Möglichkeiten hinaus, wucherten immer weiter in die Landschaft hinein und entwickelten sich dabei von einst traditionellen Dörfern zu seelenlosen Schlafstädten – so das Schreckensszenario.[23] In Eschborn war davon noch wenig zu spüren. Zwar gab es auch hier in den frühen 1970er Jahren Gegenstimmen in der Bevölkerung, die das Wachstum der Stadt für zu schnell und zu groß hielten, oft wurde die Entwicklung jedoch als notwendiger Nebeneffekt von Fortschritt und Modernisierung gesehen; die negativen Seiten des Wachstums blieben langen hinter den positiven zurück.[24]
Daneben gab es noch einen weiteren Grund, aus dem die Eschborner Politiker*innen an ihren Wachstumsplänen festhielten. Seit dem Ende der 1960er Jahre war auch in Hessen eine Gebietsreform in Gange: Zahlreiche Gemeinden wurden zur Verbesserung der Verwaltung zusammengelegt. Das war zunächst freiwillig, später jedoch drohten Zwangszusammenlegungen. Eschborn sorgte sich dabei vor allem vor einer Eingemeindung nach Frankfurt., wo der dortige Oberbürgermeister Walter Möller Pläne für eine Regionalstadt vorantrieb, die je nach Variante bis nach Hanau reichen sollte.[25] Eschborn wollte sich so gut wie möglich gegen den Zugriff Frankfurts schützen – eine Strategie hierzu war die Stärkung der eigenen Gemeinde durch Wachstum. Eschborn hoffte, sich selbst zu einem Unter- oder Mittelzentrum im Rhein-Main-Gebiet zu entwickeln. Dazu war ein Zusammenschluss mit den Nachbargemeinden kaum vermeidbar – Eschborner Vertreter*innen führten daher bereits seit 1968 interkommunale Gespräche mit Niederhöchstadt und Schwalbach.[26] Zu einem Zusammenschluss kam es jedoch nur mit einem der Nachbarn: Eschborn und Niederhöchstadt fusionierten zum Jahreswechsel 1971/72.[27]
Gemeinsam mit Niederhöchstadt trieb Eschborn die systematische Planung der eigenen städtischen Zukunft voran. Mit dem Städtebauförderungsgesetz, das 1971 bundesweit eingeführt wurde, wurden Gesamtplanungen für Städte erleichtert, Erweiterungen und Sanierungen gefördert.[28] Die städtischen Politiker*innen sahen darin eine Chance für Eschborn und schrieben einen städtebaulichen Wettbewerb aus, der die Stadt in drei großen Planungsgebieten erweitern sollte: Entlang des heutigen Naherholungsgebiets Oberwiesen sollte eine Wohnstadt Eschborn und Niederhöchstadt städtebaulich verbinden und ein Zusammenwachsen der Stadtteile fördern. Hier sollten mithilfe öffentlicher Einrichtungen ein neuer Mittelpunkt entstehen. Im Gelände Am Rödelheimer Weg waren weitere Hochhäuser vorgesehen mit Sozialwohnungen, aber auch Eigentumswohnungen in neuen und modernen Wohnformen – ein Wohngebiet für 4.500 Menschen. Was im Planungsgebiet III, südlich der Landesstraße L3005, entstehen sollte, blieb noch offen. Die Stadt stellte sich vage eine Mischung aus Wohn- und Gewerbenutzung vor. Insgesamt sollte Eschborn durch die Erweiterungen einen weiteren enormen Wachstumsschub erhalten: Bis 1985 war eine Einwohnerzahl von 35.000 prognostiziert.[29]
Den Anfang machte das Planungsgebiet II Am Rödelheimer Weg. Hier kaufte die Stadt einen Großteil der Gesamtfläche selbst auf und verkaufte ihn weiter an die Wohnungsbaugesellschaft Nassauische Heimstätte. Sie sollte dort mit dem Bau der Wohnhochhäuser beginnen. Doch das Projekt sorgte für Kritik in der Bevölkerung: Aufgrund von Grundstücksspekulationen waren die Preise in dem Baugebiet erheblich gestiegen; die Stadt zahlte für den Kauf der Grundstücke insgesamt 20 Millionen Mark – ein Preis, der vielen Bürger*innen als viel zu hoch erschien. Sie forderten mehr Mitbestimmung an den Entscheidungen des Stadtparlaments.[30] Die 1970er Jahre waren das Jahrzehnt der Demokratisierung, auch in der Kommunalpolitik: Wo in den 1950er und 1960er Jahren die Stadtparlamente häufig noch hierarchisch von oben nach unten entschieden, forderte die Bürgerschaft nun stärkere Transparenz und Beteiligung der Öffentlichkeit an den Planungen.[31] Das zeigte sich auch in Eschborn: hier entstanden Arbeitskreise, Diskussionsabende wurden veranstaltet und Bürger*innen engagierten sich einzeln oder in Initiativen zur Beteiligung an der Stadtplanung.[32]
Parallel kam es auch zu Konflikten innerhalb der Stadt. Das Wachstum hatte innerhalb kürzester Zeit zahlreiche neue Gruppen nach Eschborn gebracht und im städtischen Raum trafen unterschiedlichste Kräfte aufeinander. An verschiedenen Stellen der Stadt entwickelten sich Konflikte über die Nutzung von Räumen, über die Beteiligung an Politik und über die generelle gesellschaftliche Hierarchie in der Stadt. Verstärkt wurde das durch die gesellschaftlichen Debatten der 1970er Jahre: Seit 1968 waren soziale Bewegungen im Aufwind. Vor allem in den frühen 1970er Jahren fanden sich Bürgerinitiativen und lose organisierte Gruppen zusammen, die mit einzelnen Maßnahmen oder der generellen Richtung der Stadtentwicklung unzufrieden waren. Sie machten mit Flugblättern und Diskussionsabenden auf sich aufmerksam, übten Kritik an konkreten Missständen und stellten eigene Planungsalternativen vor. Die größte dieser Gruppierungen war der Arbeitskreis Urbs Humana, der bis 1974 immer wieder versuchte, auf die Politik Einfluss zu nehmen. Am Ende bestanden ihre Erfolge eher darin, Diskussionen anzustoßen, als in einer direkten Mitwirkung.[33]
Doch am Ende war es nicht die Kritik aus der Bevölkerung, die die Umsetzung des städtebaulichen Wettbewerbs in dieser Form verhinderte, sondern der Strukturwandel. Die erste Ölkrise 1973 sorgte für einen wirtschaftlichen Abschwung und ließ den Wachstumsoptimismus der 1960er Jahre in sich zusammenfallen. Hinzu kam die Entwicklung des Wohnungsmarkts: Die Nachfrage nach Wohnungen im suburbanen Raum sank.[34] Damit veränderten sich auch die Bevölkerungsprognosen: 1973 teilte die Regionale Planungsgemeinschaft Untermain der Stadt Eschborn mit, die zuvor geäußerte Vorhersage von 35.000 Einwohner*innen müsste neu berechnet werden.[35] Die Ergebnisse des städtebaulichen Wettbewerbs waren damit hinfällig; sie konnten nur in Bruchstücken umgesetzt werden. Was folgte, war eine Phase der zunehmenden Unsicherheit in der Stadtentwicklung. Denn auf der einen Seite war in Eschborn selbst noch recht wenig vom Umschwung zu spüren. Finanziell ging es der Stadt so gut wie nie und auch das Wachstum der Gewerbegebiete war scheinbar ungebrochen. Auf der anderen Seite gab es zunehmend öffentliche Kritik am suburbanen Wachstum. Berühmte Stimmen, wie zum Beispiel des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich, der Eschborn als Musterbeispiel chaotischer Bebauung beschrieb, übertrugen sich rasch auf die innerstädtischen Debatten.[36] In den politischen Gremien kam es verstärkt zu Streitigkeiten über die ausgearbeitete Gesamtplanung, zahlreiche Projekte verzögerten sich, gerieten in die Schwebe oder wurden ganz auf Eis gelegt. Das dynamische Eschborn war nun auf der Suche nach einer neuen Richtung.
Zurück ins „Alte Eschborn“?
Eine endgültige Neuordnung des Entwicklungskurses leitete die Kommunalwahl 1977 ein. In zahlreichen Gemeinden in Hessen rutschte die SPD ab und verlor die politische Mehrheit – so auch in Eschborn.[37] Mit dem Wahlsieg der CDU rutschte die SPD in die Opposition – zum ersten Mal seit der Nachkriegszeit. Zwei Jahre später zeigten sich die Konsequenzen dieser Wahl auch an der Rathausspitze: 1979 wurde der Bürgermeister Hans Georg Wehrheim von der Stadtverordnetenversammlung abgewählt und durch seinen christdemokratischen Nachfolger Jochen Riebel ersetzt.[38] Unter seiner politischen Führung nahm die Stadt einen neuen Kurs auf. Statt Wachstum und Dynamik stand nun das Stichwort Lebensqualität im Fokus. Die neue Eschborner Regierung setzte daher Akzente für ein gemäßigteres Wachstum.[39] Viele Bebauungspläne wurden Anfang der 1980er Jahre überarbeitet, anstelle von Großsiedlungen sollten nun vorrangig Einfamilien- und Reihenhäuser in den noch offenen Erweiterungsgebieten der Stadt entstehen. Daneben stand der Ausbau von Grünanlagen und Kultureinrichtungen im Vordergrund. Damit reagierte die Stadt auf die Kritik aus den 1970ern, die die Entwicklung Eschborns als zu schnell bewerteten und nach der Randstädte als hässlich und unwohnlich galten. Eschborn sollte einen neuen, besseren Ruf erhalten und sich ein Image jenseits von Wachstum und Dynamik schaffen.[40]
Die Stadt entdeckte hierzu ihre eigene Geschichte neu – auch im Stadtbild. Sie begann mit der Sanierung des Stadtkerns entlang der Oberortstraße: Der Westerbach wurde restauriert und bepflanzt, die Freilegung von Fachwerkfassaden wurde gefördert, der Eschenplatz neugestaltet.[41] Hier entstand das neue, alte Herz Eschborns. Diese Veränderungen müssen aber auch im Zeitgeist der 1980er Jahre gesehen werden. Die Umweltbewegung und alternative Listen hielten Einzug in die Kommunalpolitik; Bürgerinitiativen setzten sich für Sanierungen und den Erhalt von historischer Bausubstanz ein. Die Denkmalschutzgesetze, die in den 1970er Jahren eingeführt worden waren, kamen nun zur Ausführung. Viele Randstädte wie Eschborn entdeckten vor diesem Hintergrund ihre dörfliche Vergangenheit wieder, die im Wachstum der 1960er und 70er Jahre begraben worden war. Sie beklagten den Verlust einer städtischen Identität und suchten diese in einem Rückzug in die Geschichte.[42] Gleichzeitig bekamen das städtische Image und sogenannte „weiche Standortfaktoren“ wie Stadtbild, Grünflächen und Kultureinrichtungen auch für Gewerbeansiedlungen eine neue Bedeutung in der zunehmenden Konkurrenz zwischen den Städten. Eschborns Suche nach der eigenen Identität war also nicht nur eine Reaktion auf Kritik, sondern auch eine Strategie, um für Unternehmen interessant zu bleiben.[43]
Doch die Rückbesinnung auf Dörflichkeit in den 1980er Jahren rief auch Kritik hervor. Während der Stadtkern ein neues Gesicht erhielt, zeigte sich an anderen Stellen, beispielsweise in der Verkehrsplanung, aber auch in Großsiedlungen und in den Gewerbegebieten am Stadtrand, dass eine Rückkehr ins frühere Eschborn kaum möglich war. Diese Kluft zwischen städtischer Selbstdarstellung und Realität wurde vor allem von jungen Wählergruppen aufgegriffen, die im Zuge der neuen sozialen Bewegungen an Aufwind gewannen. Ihr Einfluss stieg, als zur Mitte der 1980er Jahre auch die Grünen einen Ortsverband in der Stadt gründeten.[44]
Auf dem Weg ins neue Jahrtausend – eine Stadt festigt sich
Dennoch fand erst Ende der 1980er Jahre die Gegenbewegung des Wachstums einen Abschluss, als die Randwanderung einen neuen Schub erhielt. Der Mauerfall und die zunehmende Wohnraumnot der Großstädte brachten einen neuen Zustrom an Einwohner*innen in die Ballungsgebiete und die Globalisierung und der wirtschaftliche Aufschwung sorgten für verstärkte Gewerbeansiedlungen durch eine neue, internationalere Generation an Unternehmen. Ein weiteres Mal veränderte sich die Vorstadt, wurde moderner und diverser.[45] In den 1990er Jahren waren viele der großen Veränderungen Eschborns abgeschlossen oder befanden sich in den letzten Zügen. Einige Wohngebiete, die bereits geplant worden waren, wurden nun Wirklichkeit, darunter nach über 20 Jahren der Rödelheimer Weg und das Wohngebiet am verlängerten Dörnweg.[46] Mit dem Abzug der Amerikaner vom Camp Eschborn eröffneten sich ein letztes Mal Möglichkeiten zur Erweiterung der Stadt, hier wurde mit dem Camp Phoenix Park ein weiteres Gewerbegebiet geöffnet.[47] Damit war der Aufbau Eschborns im Großen und Ganzen abgeschlossen.
Übrig blieb die Frage danach, wie man mit den Problemen umgehen sollte, die ganz unweigerlich Teil des großen städtischen Wachstums waren. In den 1990er Jahren diskutierten Politiker*innen und Öffentlichkeit viel über Verkehrsprobleme und mögliche Lösungen. Pläne für einen Fly-Over, der das Gewerbegebiet Süd anschloss, wurden aufgestellt und schließlich wieder fallengelassen.[48] Daneben galt es, Lösungen für die sogenannten Bausünden der 1960er Jahre zu finden, wie sie überall in Deutschland Thema waren. Die Hochhausviertel am Stadtpfad und Südwest liefen Gefahr, sich zu sozialen Brennpunkten zu entwickeln;[49] der Komplex aus Stadthalle und Rathaus, der als Verkörperung der Moderne gefeiert worden war, war nun zu eng und veraltet. Auch die in den 1960er Jahren sanierte Stadtmitte rund um Rathausplatz und Unterortstraße galt 30 Jahre später als zu grau, zu betonlastig. Ein städtebaulicher Rahmenplan sollte ihm und dem Rest der Innenstadt ein neues Gesicht verleihen, das weder utopisch städtisch war noch dörflich romantisierend.[50] Umgesetzt ist der städtebauliche Rahmenplan (oder eine Alternative dazu) bis heute nicht. Trotzdem stehen die Pläne für den Umbau des Rathausplatzes und die Hinwendung zu einer kleinstädtischen Stadtgestaltung stellvertretend für den Beginn einer Akzeptanz des Dazwischens aus Stadt und Dorf, das das Eschborn der 1990er Jahre charakterisierte. In den darauffolgenden Jahren versuchte die Stadt verstärkt, alle Seiten Eschborns zu fördern und als positiv zu präsentieren.
Die große Aufgabe der 1990er Jahre bestand in der Konsolidierung der Stadt. Das bedeutete, den bestehenden Standard zu erhalten und langsam, aber sicher auszubauen. Es bedeutete, sich je nach Zeit und Ressourcen den genannten Problemstellen zu widmen. Es bedeutete aber auch, sich der Realität zu stellen, dass es nicht für alle Probleme eine Lösung gab. Das Wachstum der 1960er und 70er Jahre hatte Eschborn entscheidend in seiner Struktur und seinem Aufbau verändert. In vielerlei Hinsicht zum Guten: Als die Gemeinde, die Eschborn 1960 war, hätte es nicht bis heute eigenständig bestehen können. Doch die Entwicklung hatte auch Schattenseiten mit sich gebracht, teils aus Fehlplanungen heraus, teils aus der Befolgung eines Trends, der sich später als nachteilig herausstellte. Viele dieser Probleme hatten sich genau wie das Wachstum tief in die Stadt eingeprägt und ließen sich nun kaum noch rückgängig machen. Stattdessen mussten Stadt und Bürger*innen lernen, Kompromisse einzugehen und mit den Schattenseiten des Wachstumsschubs zu leben. Es war diese Realisierung, die Eschborn aus der städtebaulichen Nostalgiewelle der 1980er Jahre holte und für eine Zukunftszuwendung sorgte.
Fazit
Eschborns Entwicklung erscheint aus heutiger Sicht fast linear, als wäre das Wachstum und der finanzielle Erfolg von Anfang an vorbestimmt gewesen. Der nähere Blick in Eschborns Geschichte zeigt jedoch: Immer wieder gab es in der jüngsten Entwicklung der Stadt Umbrüche, nach denen sich Bürgerinnen und Bürger und die Politikerinnen und Politiker neu orientieren mussten, den Kurs der Stadt ändern mussten. Immer wieder wurde dabei die Frage verhandelt: Welche Art Stadt soll Eschborn sein? Für wen ist sie da? Und welche Ziele verfolgt sie? Obwohl Eschborn in den 1950er Jahren nur eine kleine Gemeinde war, konnte sie, besonders in diesen Umbruchsphasen, ihre eigene Entwicklung mitbestimmen.
Trotz dieser Einzelentscheidungen ähnelt Eschborns Entwicklung der zahlreicher anderer Gemeinden in Deutschland in der gleichen Zeit. Viele Gemeinden an den Rändern von Großstädten erlebten in den 1960er und frühen 70er Jahren einen enormen Wachstumsschub, der nach seinem Ende in der Suche nach der Festigung einer neuen Rolle und Identität mündete. Die Suburbanisierung war ein großflächiger Prozess; das Resultat von zahlreichen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen, die in ihrem Zusammenspiel viele Orte ähnlich beeinflussten. Dennoch ist es kein Zufall, dass die Suburbanisierung in Eschborn stärkere Auswirkungen zeigte als andernorts. In Eschborn begann der Prozess – und viele seiner Folgen – früher als in vielen anderen Gemeinden, nicht selten übernahm die Stadt eine Vorreiterrolle, besonders im Hinblick auf die ganzheitliche Planung der Stadt. Auch der Einfluss von Einzelpersonen wie Hans Georg Wehrheim ist nicht zu unterschätzen, doch es spielen auch unzählige andere Faktoren mit hinein: der spezifische Charakter der Rhein-Main-Region, Eschborns Beziehung zu Frankfurt und den Nachbargemeinden, die politische Tradition des Ortes, die Rolle der Kirchen und Vereine, der enorme Zuzug von Geflüchteten nach dem Zweiten Weltkrieg, städtebauliche Impulse von außen – und zu guter Letzt auch eine gewisse Eigendynamik der Entwicklung.
Fußnoten
[1] Vgl. Hesse, Markus: Suburbanisierung, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.): Handwörterbuch der Stadt- und Raumentwicklung, Hannover 2018, S. 2629–2639; Kuhn, Gerd: Suburbanisierung. Das Ende des suburbanen Zeitalters?, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte, Nr. 2 (2002), S. 5–12.
[2] Raiss, Gerhard: Der Eschborner Militärflugplatz im Zweiten Weltkrieg, in: Zwischen Main und Taunus – MTK-Jahrbuch 4 (1996), S. 69–72, hier S. 71–72; Wurche, Siegfried: Eschborn. Von der Jahrhundertwende bis zur Währungsreform; Ein Vortrag (Erlesen - erlebt - erzählt), Eschborn 1997, S. 69–75.
[3] Kaup, Gernot: Die bauliche Entwicklung der Gemeinden seit 1945 am Beispiel Eschborn, in: Zwischen Main und Taunus – MTK-Jahrbuch 1 (1993), S. 59–68, hier S. 62.
[4] StadtA E, Nachlass Wurche, 1946-1955; vgl. auch Main-Taunus-Kreis: Flucht und Vertreibung, Aufnahme und Eingliederung der Vertriebenen im Main-Taunus-Kreis. Dokumentation, Hofheim am Taunus 1990.
[5] Vgl. StadtA E, Wohnungskommission, Allgemeine Schriftwechsel 1946.
[6] HHStAW, 656, 1613.
[7] Vgl. StadtA E, Protokolle der Gemeindevertretung 1939 – 25. April 1952.
[8] HHStAW 656, 1616.
[9] StadtA E, Protokollbücher, Protokolle der Gemeindevertretung ab 23. Mai 1952.
[10] StadtA E, 610-21/I.
[11] StadtA E, Nachlass Wurche, 1956-1958.
[12] Heineberg, Heinz: Stadtgeographie, Paderborn 62022, S. 254; Kaup (1993): Entwicklung, S. 59–60.
[13] HHStAW, 656, 114; Wurche, Siegfried: Der Vierte Stand in Eschborn. Über 100 Jahre Eschborner Arbeitergeschichte, Eschborn 1999, S. 101.
[14] StadtA E, Protokollbücher, Niederschriften- und Beschlussbuch über die Sitzungen des Gemeindevertretung Eschborn 25.4.1961-24.10.1964.
[15] StadtA E, 610-21, I-VI.
[16] StadtA E, Pressespiegel 1963-1967, PS 2.
[17] StadtA E, 0240-0208/II.
[18] Vgl. Kuhn, Gerd: Suburbanisierung in historischer Perspektive, in: Zimmermann, Clemens (Hrsg.): Zentralität und Raumgefüge der Großstädte im 20. Jahrhundert (Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung 4), Stuttgart 2006, S. 61–81.
[19] StadtA E, Protokollbücher, Niederschriften- und Beschlussbuch über die Sitzungen des Gemeindevertretung Eschborn 25.4.1961-24.10.1964; StadtA E, Pressespiegel 1963-1967.
[20] HHStAW 656, 115.
[21] ISG FFM, S3/D, 2.890; ISG FFM, S3/D, 25.521.
[22] HHStAW 502, 5589.
[23] Vgl. Deutscher Städtetag (Hrsg.): Rettet unsere Städte jetzt. Vorträge, Aussprachen und Ergebnisse der 16. Hauptversammlung des Deutschen Städtetages vom 25. bis 27. Mai 1971 in München (Neue Schriften des Deutschen Städtetages 28), Stuttgart 1971.
[24] ISG FFM, S3/D, 25.521.
[25] Vgl. Koenig, Johannes: Kommunale Selbständigkeit im Schatten Frankfurts. Die Kontroverse um den Möller-Plan, in: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde 66 (2008), S. 287–328.
[26] StadtA E, 0000-3001.
[27] HHStAW, 503, 5253.
[28] Knoch, Peter: Vom Leitbild zum Argument. Konzepte und Instrumente raumbezogener Planung in der Bundesrepublik Deutschland 1960-1990, Dortmund 1999, S. 152.
[29] StadtA E, Broschüren und Veröffentlichungen, „Städtebaulicher Wettbewerb Stadt Eschborn“, 1972.
[30] ISG FFM, S3/D, 25.521.
[31] Vgl. Othengrafen, Frank/Mario Reimer/Martin Sondermann: Städtische Planungskulturen im Wandel? Konflikte, Proteste, Initiativen und die demokratische Dimension räumlichen Planens, in: Othengrafen, Frank (Hrsg.): Städtische Planungskulturen im Spiegel von Konflikten, Protesten und Initiativen (Reihe Planungsrundschau 23), Berlin 2015, S. 357–377.
[32] StadtA E, B-00.004.705.
[33] StadtA E, 0210-0501.
[34] Mehlhorn, Dieter-Jürgen: Städtebau zwischen Feuersbrunst und Denkmalschutz. Erhaltung, Veränderung, Bewahrung, Berlin 2012, S. 267–268.
[35] StadtA E, B-00.003.140.
[36] ISG FFM, S3/D, 25.524.
[37] Kittel, Manfred: Marsch durch die Institutionen? Politik und Kultur in Frankfurt nach 1968 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 86), München 2011, S.355ff; StadtA E, Wahlergebnisse.
[38] StadtA E, 0020-0008.
[39] StadtA E, Örtliche Parteien und Wählergruppen.
[40] Vgl. StadtA E, Protokollbücher, Niederschriften des Haupt- und Finanzausschusses Legislaturperiode 1981-85 vom 4.6.1981 bis 12.1.1984.